Wir alle sind berufen, Seelsorger zu sein
Jay Adams rief die moderne biblische Seelsorgebewegung ins Leben, indem er Römer 15,14 zitierte: „Im Übrigen bin ich persönlich davon überzeugt, liebe Geschwister, dass ihr durchaus selbst in der Lage seid, all das zu tun, was gut und richtig ist; es fehlt euch in keiner Weise an der nötigen Erkenntnis, und ihr seid daher auch fähig, einander mit seelsorgerlichem Rat zu helfen“; (NGÜ). Er erinnert uns daran, dass diese Worte nicht nur an die Leiter der römischen Gemeinde gerichtet waren, sondern für alle Gläubigen relevant sind. In gewissem Sinne sind wir also alle Seelsorger. Wir geben Freunden und Familienmitgliedern regelmäßig Ratschläge (seelsorgerlichen Rat). Die biblische Seelsorgebewegung hat zur Aufgabe, die Gläubigen zu befähigen, einander auf der Grundlage von Gottes Wort, weise Ratschläge zu erteilen. Jeder Gläubige, der in der Kenntnis und der praktischen Anwendung der Heiligen Schrift wachsen möchte, sollte sich das vor Augen halten.
Nicht jeder von uns ist in der Lage, bei jedem Problem zu beraten
Nur weil jeder von uns ein Seelsorger ist, heißt das nicht, dass wir auch in jeder Situation die nötige Kompetenz haben, um andere zu beraten. Wir alle besitzen einen unterschiedlichen Grad an geistlicher Reife, Erfahrung und Kenntnis von Gottes Wort. Wir alle haben bestimmte Stärken und Schwächen. Während ich mich zum Beispiel kompetent fühle, bei Ehekonflikten zu beraten, gehe ich nicht davon aus, viel bei einer magersüchtigen Teenagerin ausrichten zu können. Es ist wichtig, dass wir unsere Stärken, Schwächen und Grenzen kennen.
Als Mose mit seiner Verantwortung als Richter Israels überfordert war, gab ihm sein Schwiegervater Jethro den klugen Rat, Älteste zu ernennen, die sich um die kleineren Angelegenheiten kümmern sollten, damit Mose sich den größeren widmen konnte (2.Mose 18,13-27;). Obwohl die Heilige Schrift völlig ausreichend ist, um uns Gottes Weisheit in jeder beliebigen Lebenssituation zu offenbaren (2.Tim 3,16-17), ist nicht jeder Gläubige ausreichend ausgerüstet, um in spezifischen Situationen Hilfe leisten zu können. Wenn wir mit Fällen konfrontiert werden, die uns überfordern, sollten wir andere Seelsorger hinzuziehen, deren Gaben und Erfahrung in dieser Situation besser zum Tragen kommen. Es kann auch passieren, dass ein erfahrener Berater nicht verfügbar ist. Dann sind wir durch göttliche Fügung dazu aufgerufen, selbst in unserer Schwachheit und stets in demütiger Abhängigkeit von Gott Hilfe anzubieten.
Seelsorge findet in unterschiedlichen Szenarien statt
In Gemeinden spreche ich oft darüber, dass wir alle in der Lage sein müssen, einander einen weisen Rat zu geben. Viele der Zuhörer sind daraufhin von der Vorstellung eingeschüchtert, „Seelsorger“ sein zu müssen. Um dieser Scheu entgegenzuwirken, werde ich über die drei verschiedenen Ebenen der Komplexität von Seelsorge sprechen. Jeder findet sich mindestens auf einer dieser Ebenen wieder. Je höher die Stufe, desto mehr Ausbildung und Erfahrung setzt sie voraus.
Stufe 1 – Informelle Seelsorge mit den Personen in deinem Umfeld
Jeder Gläubige ist in diese Art der Seelsorge aktiv. Wenn wir Zeit mit Familie und Freunden verbringen, geben wir ihnen informell Ratschläge. Manchmal geschieht dies indirekt, z.B. wenn wir uns subtil weigern, über einen anstößigen Humor zu lachen (Eph 5,4) oder nicht zustimmend nicken, wenn jemand etwas Unbiblisches sagt. In anderen Situationen müssen wir ausdrücklich für die Wahrheit eintreten, wenn beispielsweise ein bekennender Gläubiger eine Liebesbeziehung zu einer Ungläubigen erwägt oder ein Familienmitglied über eine unbiblische Scheidung nachdenkt. Es ist nicht einfach, einen Freund zu ermahnen, der sich deine Zustimmung wünscht (oder sie erwartet). Aber „Ein Freund meint es ehrlich, auch wenn er einem wehtut“ (Spr 27,6a). Als Gläubige können wir einen positiven Einfluss aufeinander haben und uns gegenseitig ermutigen, wenn wir uns die Wahrheit in Liebe sagen (Eph 4,15). „Öl und Weihrauch erfreuen das Herz, aber noch wohltuender ist ein Freund, der einen guten Rat gibt“ (Spr 27,9). In Die Pilgerreise von dieser in die kommende Welt sind die Gespräche zwischen den Gläubigen auf ihrer Reise ein Beispiel für diese Art der gegenseitigen Erbauung.
Stufe 2 – Bewusste Jüngerschaft
Diese Art der Seelsorge ist etwas strukturierter und bewusster. Hierbei triffst du dich regelmäßig mit jemandem zu einem bestimmten Zweck, vielleicht jeden Freitagmorgen zum Frühstück oder Kaffeetrinken. Das kann ein Treffen mit einer Person sein, die neu im Glauben ist, und der du die Grundlagen des Lebens als Christ beibringen möchtest. Oder es kann eine Person oder ein Paar sein, dem du bei der Bewältigung eines bestimmten Problems hilfst, z.B. Ängstlichkeit, Zorn, Lust oder Streit. Du wirst ihr Rechenschaftspartner und gibst praktische biblische Ratschläge, damit sie in der Heiligung wachsen können. Ihr lest zum Beispiel gemeinsam ein Buch und sprecht darüber. Eine reife Frau könnte regelmäßig Zeit im Haus einer jüngeren Frau verbringen, um dieser zu helfen, in ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter zu wachsen (Titus 2,3-5). Manchmal verabrede ich mich mit Männern, die ich beraten möchte, zum Spazieren gehen oder Joggen, und währenddessen tauschen wir uns über das Thema Jüngerschaft aus. Diese Gelegenheiten haben schon zu wunderbaren und gewinnbringenden Gesprächen geführt.
Stufe 3 – Formelle Beratung
Wenn wir über Seelsorge sprechen, denken viele Menschen sofort an diese Art von Beratung. Hier werden signifikante Probleme angesprochen. Die Sitzungen haben oft einen bestimmten Fokus und sind intensiv, und sie können in einem Büro oder an einem anderen Ort stattfinden, an dem man ungestört sprechen kann. In der Regel findet ein formelles Seelsorgegespräch über eine bestimmte Anzahl von Sitzungen statt. Der Berater sollte reif, gut geschult und erfahren sein. Er oder sie kann durch eine biblische Beratungsorganisation zertifiziert sein oder einen akademischen Abschluss haben (obwohl es auch gottesfürchtige, qualifizierte und erfahrene Berater ohne derlei Zertifikate oder Abschlüsse gibt). Eine formelle Beratung beginnt oft in einer Krise, z.B. Ehebruch oder Missbrauch. Der Berater muss die Bibel fundiert kennen, um auf fast jedes Problem vorbereitet zu sein. Manchmal weiß der Berater vor der Sitzung nicht viel über das Problem (oder nicht einmal über den Ratsuchenden). Idealerweise findet das formelle Seelsorgegespräch im Kontext der örtlichen Gemeinde statt, es kann allerdings auch in einer Beratungsstelle durchgeführt werden. Manche Fälle von formeller Seelsorge sind komplexer als andere. Selbst erfahrene Seelsorger werden manchmal mit Situationen konfrontiert, für die sie nicht ausreichend gerüstet sind – in diesen Fällen müssen auch sie die Hilfe anderer Seelsorger in Anspruch nehmen.
Fazit
Jeder Christ ist auch Seelsorger. Wir alle stehen den Menschen in unserem Umfeld mit Ratschlägen zur Seite. Dabei sind einige von uns dazu berufen, in einem formelleren Rahmen zu beraten. Jeder von uns sollte sich bemühen, in der Kenntnis und der Anwendung von Gottes Wort zu wachsen, damit wir unsere Brüder und Schwestern in Christus auferbauen können (Eph 4,15-16).
Fragen zur Reflexion
- Wie sehr fühlst du dich zur Seelsorge befähigt?
- Was könntest du tun, um anderen besser Ratschläge erteilen zu können?
- Glaubst du, dass du die Gabe hast, auf einer höheren/tieferen Ebene zu beraten? Was wäre nötig, um diese Ebene zu erreichen?
- Wann solltest du einen seelsorgerlichen Fall an einen anderen Seelsorger abgeben?
Über den Autor: Jim Newheiser kommt aus den USA und war dort 25 Jahre als Pastor tätig. Er ist Professor für Biblische Seelsorge, Kuratoriumsmitglied der BCC (Koalition für Biblische Seelsorge) und der ACBC (Vereinigung zertifizierter Biblischer Seelsorger). Jim ist seit 1979 mit Caroline verheiratet. Die beiden haben drei erwachsene Kinder.
Hinweis: Jim Newheiser ist der Hauptredner auf unsere Seelsorge Konferenz im Jahr 2023.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei BCC. Übersetzung und Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.
https://www.biblicalcounselingcoalition.org/2023/06/09/who-is-competent-to-counsel/