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Der MTA Mitarbeiter musste zweimal hinschauen als ich den Untersuchungsraum betrat. Ich war eine tickende Krebszelle. Mein Gesicht war voll Asche, meine Brille Ruß benebelt und mein sonst weißes Hemd war am Kragen und Schultern grau. Heute würde ich “die Quittung” bekommen.
Die MRT Untersuchung von meinem Gehirn hatte rein gar nichts mit dem zu tun, was ich gerade erlebt hatte. Die Untersuchung stand an, weil ich seit Monaten Dauerkopfschmerzen habe und zu verschiedenen Ärzten ging, um die gängigen Ursachen auszuschließen. Mein Facharzt meinte, dass es nun an der Zeit sei, den möglichen ernsten Ursachen in meinen Gehirnzellen auf den Grund zu gehen. Allerdings war diese Bedrohung einer Krebserkrankung nicht das, was meine Gedanken gerade am meisten beschäftigte. Vielmehr beschäftigte mich, welcher Bedrohung meine Familie heute Morgen ausgesetzt war.
Der MTA Mitarbeiter merkte nach ein paar vorbereitenden Fragen zur Untersuchung, wie gedanklich abgelenkt ich war. Er nahm mir das Klemmbrett mit all den Fragebögen freundlich aus der Hand und sagte, dass wir uns später darum kümmern werden. Er sprach mit derselben Stimme, wie ich es tue, wenn meine achtjährige Tochter Betsie etwas nicht hinbekommt, um das ich sie gebeten habe.
Der Assistent bat mich das Patientenhemd anzuziehen und mich auf den Tisch zu legen. An der Decke sah ich Bilder vom blauen Himmel und weißen Wolken. Ich starrte die Bilder an, als der MTA Mitarbeiter mich in die richtige Lage brachte und festschnallte. Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass ich mit Polstern in die richtige Position gebracht wurde, oder weil ich einen Schlafanzug anziehen sollte, oder weil das merkwürdige Maschinengeräusch sich so anhörte, wie eine Unterhaltung bei der ich nichts verstand. In meinem gesamten Erwachsenenleben habe ich mich nicht mehr so sehr wie ein Kind gefühlt, wie in diesem Moment.
Im Angesicht von Angst werden wir alle wieder zu Kindern. Diese Verzweiflung ist ein Geschenk.
Furcht und Feuer
Ich muss ein bisschen ausholen, um von der Bedrohung zu berichten, der ich gerade entkommen war.
Der Tag begann wie ein ganz normaler Dienstagmorgen. Die ganze Familie befand sich in ihrer Wochenroutine und sieben Personen arbeiteten neben einander her, bis alle angezogen, versorgt, ihre Sachen gepackt und das Haus verlassen hatten. Fünf Kinder gingen zur Schule, die Eltern zur Arbeit und ein Hund wurde in seine Hundebox verfrachtet.
Ich war im Schlafzimmer als uns alle ein außergewöhnliches Kreischen zum Erstarren brachte. Mein erster Gedanke war „Alarmstufe Gelb“ [Warnhinweis – Amber Alert -, der in den USA auf dem Handy ertönt und auf ein entführtes Kind hinweist– die wohlmeinende staatliche Übernahme unserer Handys – um uns auf ein bestimmtes Autokennzeichen aufmerksam zu machen, auf das wir achten sollen.] Ich ging davon aus, dass ich nur mein Handydisplay antippe und wir dann wieder zur Tagesordnung zurückgehen.
Es war Sarah, die “Feuer!” schrie! Meine Frau hat normalerweise zwei Tonlagen. “Standard” Tonlage ist für normale alltägliche Angelegenheiten. “Dringend” kommt bei Spinnen und vermeintlichen Verletzungen unserer Kinder zum Einsatz. Dieser Schrei gehörte einer dritten Kategorie an.
Neben unserem Schlafzimmer ist der Wäscheraum. Aus diesem Raum kam Rauch. Woran ich mich am besten erinnern kann, ist das grelle Orange der Flammen, das aus dem Trockner kamen – ein Orange, das auf alarmierende Art, nicht zu unserem Haus passte. Wir hetzten nach unten, um den Feuerlöscher zu holen und riefen unseren Kindern zu, dass sie die Feuerwehr alarmieren sollen. Nach zwei Minuten war ich wieder oben, fingerte nervös an dem Feuerlöscher herum, den ich noch nie zuvor benutzt hatte. Der Löschschaum richtete so gut wie nichts gegen das gewaltige Feuer aus. Ich starrte hilflos in das ungeheuerliche Orange, der leere Feuerlöscher hing an meiner Seite.
Ich konnte mich nicht länger der Illusion hingeben, dass ich das Feuer unter Kontrolle bekommen würde.
Der Rauch stieg jetzt schwarz wie Öl auf. Sarah rief mir zu, dass ich aus dem Haus kommen soll. Ich war auf halben Weg die Treppe hinunter gegangen, als ich etwas ganz Gravierendes feststellte. Ich hatte gesehen, wie unsere vier älteren Kinder das Haus verlassen hatten, aber nicht unsere Jüngste – unsere Betsie.
Ich erinnere mich noch daran, dass ich von meiner eigenen Stimme überrascht war, als ich wieder die Treppen hochraste und ihren Namen rief. Es kam einem tierischen wehklagen gleich. Es war ein Ausdruck größter Hilflosigkeit. Als wenn man in einer unbekannten Atmosphäre nach etwas sucht, das man liebt.
Angst lässt uns zu Kindern werden
Diese Gedanken ließen mich nicht los, als ich im MRT lag. Meine verzweifelte Suche dauerte nur ungefähr 15 Sekunden an, bis ich Sarah rufen hörte, dass Betsie bei den Nachbarn sei. Aber diese 15 Sekunden hatten etwas in mir verändert. Sie brachten eine Verzweiflung in mir hervor, die ich vorher noch nie erlebt hatte. Dieses ungeheuerliche Orange und furchtbare Schwarz hatten mir bewiesen, dass ich nicht die Fähigkeit besaß, die Dinge in meinem Leben zu kontrollieren, die mir am wichtigsten sind. Ich war wie ein Kind.
Wenn wir Angst haben, werden wir alle wieder wie Kinder. Wenn unsere Sicherheit auf dem Spiel steht, merken wir wie abhängig wir sind. Wir können weder unsere eigene Sicherheit gewährleiten, noch die Sicherheit derer, die von uns abhängig sind. Wir haben unser Leben nicht in der Hand. Diese Tatsache ist tiefgreifend beunruhigend.
Aus diesem Grund haben mich die Worte Jesu nie wirklich getröstet, wenn er sagt, dass das Reich Gottes für Kinder ist. Was sich zunächst nach einer niedlichen und gefühlvollen Aussage anhört, ist in Wahrheit eine der schwierigsten Äußerungen Jesu. Er hebt eine Eigenschaft von Kindern hervor, von der wir Erwachsenen oft wünschten, sie träfe nicht auf uns zu: Kinder wissen ganz genau, dass sie Hilfe brauchen.
Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht annehmen wird wie ein Kind, wird nicht hineinkommen (Lukas 18,17).
Kinder wissen, dass sie die Dinge nicht in der Hand haben – darum müssen sie oft um Dinge bitten. Das Schlüsselprinzip ist – wie ein Kind zu empfange. Lukas platziert diese Geschichte in Mitten einer Reihe anderer Geschichten. Diese Geschichten zeigen den Kontrast zwischen erfolgreichen Menschen, die sich ihrer Hilflosigkeit nicht bewusst waren und verzweifelten Menschen, die sich schmerzlich bewusst waren, dass sie Hilfe brauchen. Jesus machte deutlich: die nötige Herzenshaltung um Gottes Gnade zu empfangen, ist zu akzeptieren, dass wir bedürftig sind. In Zeiten der Not wird uns unsere Bedürftigkeit sehr bewusst. Verzweiflung kann somit ein Tor zum Reich Gottes sein.
Es sollte uns nicht überraschen. Jesus selbst lernte die Verzweiflung kennen. Der Schreiber des Hebräerbriefes sagt uns, dass er, obwohl er Gott ist, als Mensch denselben Bedrohungen ausgesetzt war wie wir. Er kannte den gleichen Verlust, die gleiche Versuchung, das gleiche Leid. Als Mensch lernte Jesus das Wehklagen. Sein Schreien war tiefer als unsere größte Verzweiflung. Und dennoch hat er in diesen unglaublichen Bedrohungen Seinem Vater vertraut (Heb. 4,14-16; 5,7-19). Jesus kannte Verzweiflung.
Glaube wird nicht in einem sicheren Umfeld, sondern in mitten von Verzweiflung unter Beweis gestellt. Jesus zeigte, dass er dem Vater vertraute, gerade weil er nicht in Sicherheit war. Der Schreiber des Hebräerbriefes lässt Jesus ein Lied aus dem Alten Testament singen:
Ich will mein Vertrauen auf ihn setzen. Siehe, ich und die Kinder, die Gott mir gegeben hat. (Heb. 2,13)
Wir sind diese Kinder. Wie Jesus lernen wir Verzweiflung, damit wir Vertrauen lernen. Das ist der Weg, den Jesus für uns geebnet hat. Es gibt keinen anderen Weg.
Friede in mitten der Angst
Mir war das alles noch nicht so klar geworden. Ich lag noch immer im Bauch dieser Maschine, den Löschschaumgeschmack in meinem Mund. Ich erinnere mich, dass ich versuchte nicht darüber nachzudenken, was dieses merkwürdige rhythmische Geräusch über das Innere meines Schädels aufdecken wird. Ich versuchte nicht noch einmal diese 15 Sekunden größter Verzweiflung zu durchleben, die ich morgens auf der Suche nach meiner Tochter durchlebte und versuchte mir keine Gedanken darüber zu machen, wo meine Familie in dieser Nacht schlafen würde.
Um wirklich Gottes Gnade zu verstehen muss das Herz bereit sein, unsere Bedürftigkeit anzuerkennen.
Weißt du, was ich festgestellt habe? Ich musste mich erst gar nicht wirklich darum bemühen. Ich habe etwas in meinem Leben erlebt, was erst ein paarmal vorgekommen ist. Ein einziger unabsichtlicher Gedanke hat sich unwiderruflich in meinem Kopf festgesetzt. Es war als würde er alle anderen Gedanken blockieren.
Ich bin ein Kind Gottes.
Ich hätte so viele Gedanken haben können, aber es war eben dieser eine. Es war ungeplant und ungewollt, wie das Zeugnis eines anderen Menschen, das mir hilft klar zu denken. Es war die Stimme – unerwartet aber doch vertraut – vom Heiligen Geist, der seine Rolle als Helfer ausführt: “Der Geist selbst bezeugt zusammen mit unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind.” (Röm. 8,16) Sein Trost war so mächtig und überwältigend, dass ich dachte, dass es vielleicht auf dem MRT Bild sichtbar sein würde.
Frieden ist das Vorrecht der Kinder Gottes. Dieser Frieden ist in verzweifelten Zeiten am stärksten. Gott geht mit seinen verletzten Kindern besonders liebevoll um.
Wessen Kind bist du?
An diesem Abend saß meine frisch geduschte Familie eng auf unseren Hotelbetten beisammen und hörte dem Gouverneur unseres Bundesstaates zu. Er gab die weiteren verschärften Maßnahmen bekannt, die wegen einer mysteriösen Sache, die man Coronavirus nennt, festgelegt wurden. Sarah und ich schauten uns über die fünf kleinen Köpfe hinweg an. Wir mussten im Anbetracht der absurden Vielfalt an Gefahren, die allein an diesem einen Tag aufeinandertrafen, lächeln.
Ein Dienstag im März, den wir nie vergessen werden.
Aber dieser Tag gab meiner Frau und mir nur eine Starthilfe bei dem, was uns alle COVID-19 lehrt. Wir haben unser Leben nicht in der Hand.
Wir erleben, dass die medizinischen Experten weltweit nicht in der Lage sind, Heilmittel zu entwickeln, dass die Statistiker weltweit nicht wissen, wie die Ausbreitung am besten berechnet werden kann, dass die Industrien weltweit nicht in der Lage sind, mit der benötigten Versorgung Schritt zu halten, dass die Weltmärkte in Panik geraten und sich in einer Abwärtsspirale befinden. Selbst unsere Experten sind Kinder.
Es betrifft aber auch unseren Alltag: Wir verlieren unsere Arbeit und Freiheiten, die wir noch vor ein paar Wochen als selbstverständlich gesehen haben. Wir machen uns Sorgen um Toilettenpapier und Brot. Darüber hätten wir vor ein paar Wochen noch gelacht. Aber diese fundamentalen Sorgen nehmen uns die Illusion unserer Abhängigkeit. Wir sind alle Kinder.
Die eigentliche Frage lautet: Wessen Kind bist du? Du bist entweder das Kind von niemandem – ein Waise – oder du bist Kind von jemandem – ein Sohn oder eine Tochter Gottes. Verzweiflung zwingt uns dazu, den Unterschied zu sehen.
Der Friede ist ein Vorrecht für die Kinder Gottes. Dieser Friede wird am stärksten in Zeiten der größten Verzweiflung. Gott ist besonders liebevoll zu seinen Kindern, wenn sie Schmerzen haben.
Diejenigen, denen ihre Bedürftigkeit bewusst ist, können Kinder Gottes werden. Ihre Sünde trennt sie von einem heiligen Gott und der Tod ist ein Feind, dem man nicht entkommen kann. Die Verzweiflung kann uns dazu verleiten, darauf zu vertrauen, dass uns jemand anderes rettet. Es kann uns vor der Gefahr der Ewigkeit wachrütteln, die auf jeden von uns wartet, der nicht anerkennt, dass er von Jesus gerettet werden muss. Das allein ist der unbezahlbare Wert, den man erhält, wenn man zur Familie Gottes gehört. Verzweiflung ist ein Geschenk.
Wir sind immer Kinder
Meistens ebbt die Verzweiflung irgendwann ab. Die Situationen, die uns beunruhigen dauern nur eine gewisse Zeit an und dann ist uns unsere Hilflosigkeit peinlich.
Wenn ich jetzt zurückblicke, könnte mir meine Verzweiflung bei dem Hausbrand peinlich sein. Die Feuerwehrmänner haben mir gesagt, es hätte noch viel schlimmer kommen können. Das Haus steht noch. Betsie spielt glücklich und sicher mit den anderen Kindern im Garten unseres gemieteten Hauses. Vielleicht war diese Verzweiflung albern.
Mir könnte auch meine Hilflosigkeit wegen des MRTs peinlich sein, weil das Ergebnis mir lediglich hohe Intelligenz bescheinigt – so erzähle ich das anschließend den Leuten. Wo auch immer diese Kopfschmerzen herkommen, es ist kein Tumor. Vielleicht war diese Art von Verzweiflung albern.
Eines Tages könnten wir versucht sein, dass uns unsere Verzweiflung über diese Pandemie peinlich ist. Wir werden da irgendwie durchkommen. Die meisten Menschen, die an COVID-19 erkranken, werden sich wieder erholen. Die Wirtschaft wird wieder anlaufen. Unternehmen werden wieder neue Mitarbeiter einstellen. Wir werden wieder unser Gefühl der Sicherheit zurückgewinnen. Also ist unsere jetzige Verzweiflung vielleicht albern.
Oder aber auch nicht. Vielleicht hilft sie uns dabei, klarer zu sehen als sonst. In Anbetracht der Angst sind wir alle Kinder. Aber andererseits sind wir auch immer Kinder.
Jeremy Pierre lehrt Biblische Seelsorge am Southern Baptist Theological Seminary und dient als Pastor in der Gemeinde Clifton Baptist Church. Er lebt mit seiner Frau, Sarah und seinen fünf Kindern in Louisville (USA).
Dieser Beitrag erschien zuerst bei TGC. Übersetzung und Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.